Umsatzsteuer-Compliance ohne Umstellung auf SAP S/4HANA

Weshalb jetzt die ideale Zeit für eine Aktualisierung der Steuerstrategie ist, erklärt Gastautor Martin Grote.

Da SAP höchstwahrscheinlich an dem Support-Enddatum 2027 für die ERP-Vorgängerlösung ECC festhalten wird, befinden sich viele Unternehmen derzeit in der Frühphase ihres Umstiegs auf SAP S/4HANA. Nun bieten sich zwei Möglichkeiten: Brownfield oder Greenfield? Welcher Ansatz ist für den Umstieg auf SAP S/4HANA besser geeignet?

Aus Steuersicht kann man die Möglichkeiten mit einem Wohnungswechsel vergleichen: Angenommen, Sie haben 20 Jahre in Ihrer Behausung gelebt und in dieser Zeit allerlei Einrichtungsgegenstände und mittlerweile veraltete Haushaltstechnik zusammengetragen. Ihnen ist klar, dass Ihr Zuhause dringend eine Modernisierung benötigt. Nun ist der Abriss Ihres Hauses vorgesehen, doch Sie können eine neue Unterkunft beziehen, die definitiv besser ausgestattet ist als Ihre jetzige Wohnung.

Bei einem Brownfield-Umzug gehen Sie folgendermaßen vor: Sie nehmen alle verschlissenen Möbel mit und schließen in der neuen Küche Ihre antiken Küchengeräte aus den 70er-Jahren an die mit Tesafilm zusammengehaltene Steckdosenleiste an. Hätte sich die Welt in den letzten 20 Jahren nicht so sehr verändert, könnte man sich in der Tat fragen, ob es nicht vernünftiger ist, das Bekannte zu übernehmen, als sich an das Unbekannte zu gewöhnen.

Für den Umstieg auf eine neue Version der ERP-Kernsoftware gilt genau dasselbe. Wenn sich die Dinge nur sehr langsam oder gar nicht ändern, kann es unkomplizierter sein, die Konfigurationen und Anpassungen für die Umsatzsteuer und andere indirekte Steuern eines Jahrzehnts (oder länger) in ein nagelneues ERP-System zu kopieren. Seit SAP ECC6 im Jahr 2005 auf den Markt gebracht hat, hat sich jedoch alles in rasanter Geschwindigkeit verändert – im Hinblick auf die ERP-Software wie auch auf die äußeren Umstände, insbesondere die Besteuerung.

Kontinuierliche Kontrolle von Transaktionen auf globaler Ebene

Weltweit treiben die Regierungen die Digitalisierung der Steuererhebung voran. ViDA („Mehrwertsteuer im digitalen Zeitalter“) ist ein Projekt der Europäischen Union (EU), mit dem die Mehrwertsteuerverfahren in der EU vereinfacht und modernisiert werden sollen. Kontinuierliche Transaktionskontrollen – darunter E-Invoicing und Echtzeit-Meldungen – verpflichten Unternehmen dazu, den Behörden Informationen über ihre Geschäftsvorgänge in Echtzeit zu übermitteln. Dadurch soll die Umsatzsteuerlücke verringert werden, die die Staaten in Summen in Milliardenhöhe kostet.

Diese digitale Transformation wird weltweit unterschiedlich umgesetzt, doch die Verweigerung der Umsetzung ist keine Alternative. Wer sich nicht an die Vorschriften hält, zahlt den Preis. Die Sanktionen können von Audits über Bußgelder bis hin zu strafrechtlichen Sanktionen reichen, die in einigen Ländern verhängt werden.

IT-Teams setzen auf ein Flickwerk aus Insellösungen und benutzerdefiniertem Code, um einem überholten System gerecht zu werden. Dabei sollte man jetzt die dringende Notwendigkeit erkennen, Behelfslösungen durch eine globale Strategie abzulösen, die mit ECC und S/4 Hana die Einhaltung von Steuerrichtlinien unterstützt.

Fokus der „Compliance“ verschiebt sich auf das transaktionale Quellsystem

Traditionelle Compliance-Verfahren und -Technologien für indirekte Steuern stammen im Allgemeinen aus einer Zeit, in der Geschäftsvorgänge und Steuererklärungen auf Papier basierten. Sie gehören zum Bereich der internen Kontrollen und Prozesse rund um das Rechnungswesen des Unternehmens und sind nicht mit den Bereichen Lieferkette, Beschaffung und Verkaufstransaktionen verbunden.

Doch in der heutigen Zeit der Transaktionstechnologie und kontinuierlichen Transaktionskontrollen (CTCs) verschiebt sich der Fokus der „Compliance“ auf das transaktionale Quellsystem. Zudem müssen die existierenden Berichterstattungsprozesse, Organisationsstrukturen und Technologien, die nach wie vor direkt mit ERP-Systemen interagieren, weiterentwickelt werden. Unternehmen müssen sich auf die Etablierung neuer Berichtskonzepte auf der Grundlage einer kontinuierlichen, automatisierten Datenübermittlung einstellen, die zunehmend weniger Spielraum für die manuelle Datenaufbereitung und -überprüfung lässt.

Die Einhaltung von Steuervorschriften entwickelt sich in dieser modernen, transaktionsorientierten Welt von einem weitgehend ERP-zentrierten Buchführungsprozess zu einer betrieblichen Angelegenheit: Wenn nicht rechtzeitig hundertprozentig genaue Transaktionsdaten an die Finanzbehörde weitergegeben werden können, kann es in Lieferketten und bei der Auftragsabwicklung zu Verzögerungen kommen. Dies schafft eine viel unmittelbarere Abhängigkeit zwischen dem Saldo und der korrekten Übermittlung von Steuerdaten im ersten Anlauf als Teil der Transaktion. Die Steuerermittlungsverfahren müssen sich daher von vorwiegend nachträglichen Validierungstools zu kritischen Werkzeugen zur Aufdeckung und Korrektur von Verarbeitungsfehlern in der Transaktionssoftware weiterentwickeln.

Drittanbieter müssen die Einhaltung der Transaktionssteuer gewährleisten

Ein Großteil dieser Transaktions-Software wird nicht den Unternehmen selbst unterstehen – sondern in der Cloud von Drittanbietern betrieben werden, die für Millionen andere Vertragspartner die gleichen End-to-End-Prozesse abwickeln. Daher obliegt es diesen Drittanbietern, die Einhaltung der Transaktionssteuer als Teil ihres Dienstleistungsangebots zu gewährleisten. Für Unternehmen wird es zudem wichtig sein, bei der Auswahl der Anbieter auf ihre Fähigkeit zur Überwachung der Steuerkonformität und zur Verwaltung von Änderungen zu achten. Der Einsatz solcher Transaktionsmanagement-Plattformen erfolgt im Zusammenspiel mit einer neuen Generation von Cloud-fähigen ERP-Systemen, die dank datenbankinterner Verarbeitung und anderer neuer Technologien einen enormen Zuwachs an Verarbeitungsleistung erhalten werden.

Im Rahmen dieses aufkommenden einheitlichen Öko-Systems der Digitalwirtschaft ist die Verlagerung der „Compliance“ auf Tochtergesellschaften eher widersinnig. Denn wer das nicht mehr zeitgemäße Konzept der dezentralen Gewährleistung der Einhaltung der Umsatzsteuerpflicht auf das Umfeld der verpflichtenden E-Invoicing und der kontinuierlichen Compliance ausdehnt, wird bei Tochtergesellschaften vor Ort unterschiedliche lokale Technologien und Anbieter für die wichtigsten Handelspartner- und E-Invoicing-Prozesse verwenden. Dadurch können sie nicht von den cloudbasierten Transaktionsplattformen profitieren, die ein Unternehmen weltweit einführen will, um die Vorteile von unternehmensweiten administrativen Dashboards, Ausgabenmanagement und Finanzierungsoptionen zu nutzen.

Letztlich macht die Implementierung der existierenden Anpassungen zur Einhaltung der Compliance für indirekte Steuern in S/4 Ihre digitale und finanztechnische Transformation nicht nur ungeschehen, sondern auch zu einem verlustreichen und strategisch riskanten Unterfangen.

Zeitpunkt für die Modernisierung der Steuerkonformität ist günstig

Angesichts der Beschleunigung der länderspezifischen Regelungen für die Digitalisierung der Steuern und der laufenden Kontrollen in den letzten Jahren ist anzunehmen, dass sich die Veränderungen in den nächsten Jahren noch rasanter weiterentwickeln werden. Unternehmen sollten sich daher die Frage stellen, ob ihre aktuelle Umsatzsteuerlösung mit SAP S/4HANA vereinbar ist, sondern vielmehr, inwieweit sie es zukünftig sein wird.

Alle Maßnahmen, die an einem vorhandenen ERP-System vorgenommen wurden, um alte „Compliance“-Prozesse zu unterstützen, werden schon bald überholt sein oder ein umfassendes Upgrade erfordern, um den Anforderungen der sich rapide verändernden transaktionszentrierten Umgebung gerecht zu werden. Muss eine neue Lösung erstellt werden, kann der Code nicht einfach in das neue System kopiert werden, was zu einem erhöhten Zeit- und Arbeitsaufwand für die Entwurfs-, Test-, Redesign- und erneute Testphase führt.

Um auf das Beispiel des Umzugs zurückzukommen: Ein Wechsel in die neue Wohnung mit den veralteten Elektrogeräten wäre unsinnig. Doch je länger man wartet, desto komplizierter wird die Umstellung. Am sinnvollsten wäre es, wenn Unternehmen die neuen Geräte bereits in ihrer jetzigen Wohnung einsetzen und dann mit ihnen umziehen.

Die Migration auf S/4 stellt eine einmalige Chance für einen zeitgemäßen, zentralisierten Lösungsansatz für indirekte Steuern dar. Grundlage dafür sollten die Leistungen eines einzigen Anbieters sein, der in der Lage ist, Ihre steuerlichen und regulatorischen Compliance-Anforderungen unabhängig davon, wo Sie unternehmerisch aktiv sind, einzuhalten.

 

Martin Grote

ist VP Solution Principal, Consulting Services bei Sovos.

 

 

 

 

 

Themenseiten: Compliance, ERP, Migration, SAP, SAP S/4HANA, Steuer, cloud

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